Pro & Contra: Kernfusion als realistische Zukunftsoption oder vergebene Mühe?

Kernfusion

Ende 2022 haben Forschende in den USA damit Schlagzeilen gemacht, dass sie erstmals mehr Energie aus einer Kernfusion gewonnen als unmittelbar hineingegeben haben. Aber wie realistisch ist
es, dass diese Technologie tatsächlich zu einer verlässlichen Energiequelle für die Menschheit wird? Plasmaphysikerin Prof. Dr. Ursel Fantz und Nuklearexperte Dr. Christoph Pistner diskutieren.

Frau Fantz, Herr Pistner, wie funktioniert Kernfusion?

Ursel Fantz: „In der Kernfusion streben wir eine Verschmelzung von Atomkernen an, um Energie freizusetzen. Die Kunst dabei ist es, die sich eigentlich abstoßenden positiv geladenen Kerne lange genug zusammenzubringen, damit sie fusionieren. Für die Zündung müssen drei Parameter passen. Erstens die Temperatur, die bei der Fusion der Wasserstoff-Isotope Deuterium und Tritium, wie wir sie im internationalen Experimentalreaktor ITER anstreben, mindestens 100 Mio. Grad Celsius betragen muss. Darüber hinaus muss die Dichte des Brennstoffes, in diesem Fall ein Plasma, groß genug sein. Und schließlich braucht es eine ausreichende Energieeinschlusszeit – das ist die Zeit, bis die über Heizungen in das Plasma gepumpte Wärmeenergie wieder nach außen verloren geht.“

Christoph Pistner: „Bei den erforderlichen Temperaturen ist klar, dass sich dieser Einschluss nicht in materiellen Behältnissen umsetzen lässt, weil das heiße Plasma bei jedem Wandkontakt sofort abkühlen würde. Es braucht darum andere Ansätze: zum Beispiel die Magneteinschlussfusion, wie sie der Experimentalreaktor ITER umsetzen soll. Dabei schließen magnetische Felder den Brennstoff ein und halten ihn von den Gefäßwänden fern. Eine weitere Möglichkeit ist die Trägheitseinschluss-Fusion, die bei identischer Temperatur eine geringere Einschlusszeit, dafür aber eine sehr viel höhere Dichte benötigt. Die soll erreicht werden, indem beispielsweise gebündelte Laserstrahlen auf nur wenige Millimeter große Brennstoffkügelchen gelenkt werden.“

Magneteinschluss- oder Laserfusion: Welche der beiden Varianten ist realistischer umsetzbar?

Ursel Fantz: „Bei der magnetischen Fusion gibt es noch technologische Hürden – hauptsächlich in der Materialentwicklung. Aber die physikalischen Eigenschaften sind inzwischen dank langjähriger Forschung gut verstanden. Da sind wir viele Schritte weiter als die Laserfusion, die zu 90 % militärisch gefördert ist und viel mit Einzelexperimenten arbeitet.“

Christoph Pistner: „Dem stimme ich zu. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass die Kernfusionsforschung schon in den 1950er-Jahren begonnen hat – und jetzt sind wir gerade dabei, die Physik zu verstehen und zu demonstrieren. Der Weg vom physikalischen Prinzip hin zu einem kommerziellen Kraftwerk ist weit, da sind noch sehr viele ingenieurtechnische Fragen zu beantworten.“

Welche Vorteile verspricht die Kernfusion?

Ursel Fantz: „Dass Kernenergie keine CO2-Emissionen verursacht, ist klar. Was viel diskutiert wird, ist die Radioaktivität, die vom Tritium ausgeht. Der Brennstoff soll im Kraftwerk selbst erzeugt werden und wird sich in gewissem Umfang in den Materialien dort einlagern. Ein großer Vorteil gegenüber der Kernspaltung ist, dass er nicht von außen dorthin transportiert werden muss und dass es für den radioaktiven Abfall später keine Endlagerung braucht, weil wir für die Fusion spezielle niedrig-aktivierbare Materialien entwickeln, die sich nach 50 bis 100 Jahren wiederverwerten lassen sollen. Die radioaktiven Transporte würden also im Idealfall wegfallen. Außerdem kann es in der magnetischen Fusion nicht zu einem selbstverstärkenden Prozess kommen, wie es ihn in der Kernspaltung gibt. Wir müssen hauptsächlich viel Energie aufwenden, damit die Fusion gelingt – wenn da ein unvorhergesehenes Ereignis eintritt, ist die Energie weg und der Prozess stoppt.“

Christoph Pistner: „Diese Materialien gibt es allerdings noch nicht. Es ist zwar das erklärte Ziel, sehr langlebige radioaktive Abfälle zu vermeiden. Aber ob das erreichbar ist, wissen wir noch nicht. Ein weiterer Punkt ist die Tritium-Produktion. Abgesehen davon, dass noch offen ist, ob und wie die Herstellung in der Praxis gelingt.Wir reden von beträchtlichen Mengen für so ein Kraftwerk, und das stellt enorme Anforderungen sowohl beim Strahlenschutz als auch mit Blick auf Sicherungsfragen. Würde viel davon freigesetzt, wäre das außerdem ein radiologisches Problem auch für die Umgebung der Anlage. Wir werden also Sicherheitskonzepte brauchen, die vergleichbar sind mit denen für heutige Kernkraftwerke.“

Kernfusion_Ursel Fantz

Pro Kernfusion

Prof. Dr.-Ing. Ursel Fantz (60) promovierte auf dem Gebiet der Niedertemperaturplasmaphysik und habilitierte 2002 im Fach Experimentalphysik an der Universität Augsburg, wo sie eine Arbeitsgruppe leitet. Seit 2004 arbeitet sie am Max-PlanckInstitut für Plasmaphysik, seit 2010 als Leiterin des Bereichs ITER-Technologie und -Diagnostik. Der internationale Experimentalreaktor ITER soll demonstrieren, dass Kernfusion als Energiequelle technologisch umsetzbar ist.

Ist die Vision einer Energieerzeugung aus Kernfusion überhaupt realistisch?

Ursel Fantz: „Ich glaube daran. Wir haben in den vergangenen Jahren große Fortschritte gesehen. Und es ist ja nicht so, dass wir auf die Fertigstellung von ITER warten, um ein Demonstrationskraftwerk zu entwickeln. Tatsache ist, dass parallele Aktivitäten innerhalb des europäischen Forschungskonsortiums EUROfusion stattfinden. Auch in der Industrie haben sich schon Unternehmen zusammengetan. Darüber hinaus haben sich zuletzt viele Start-ups in dem Bereich gegründet. Das macht das Ganze deutlich realistischer, als es noch vor ein paar Jahren war.“

Christoph Pistner: „Ein bisschen Wasser möchte ich da jetzt schon in den Wein gießen. Wenn wir uns das ITER-Projekt anschauen: Baubeginn war 2010, damals sollte das erste Plasma 2018 erreicht werden. Das hat man dann um sieben Jahre auf 2025 verschoben, den Beginn des Deuterium-Tritium-Betriebs auf 2035. Und nun gibt es schon wieder neue Probleme und Verzögerungen. Wir sehen einfach, dass diese Projekte aufgrund ihrer extrem komplexen Technologie sehr lange Zeiträume brauchen und immer wieder mit Rückschlägen konfrontiert sind. Heute glauben wir, irgendwann die physikalische Machbarkeit zeigen zu können. Aber ob daraus jemals eine technische Machbarkeit im Sinne eines kommerziellen Kraftwerks wird, ist nicht klar. Ich sehe jedenfalls nicht, dass es innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte einen fertigen Prototyp geben wird.“

Kernfusion Christoph Pistner

Contra Kernfusion

Dr. Christoph Pistner (54) ist promovierter Physiker und arbeitet seit 2005 am Öko-Institut e.V., wo er sich mit Fragen der Reaktorsicherheit beschäftigt. Seit 2019 hat er die Leitung des Bereichs Nukleartechnik und Anlagensicherheit bei dem Umweltforschungsinstitut inne. Darüber hinaus ist er stellvertretender Vorsitzender der Reaktor-Sicherheitskommission des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz.

Selbst wenn irgendwann Fusionskraftwerke ans Netz gehen sollten, kommen sie für die Energiewende definitiv zu spät. Ist es ratsam, so viel Aufwand zu betreiben?

Ursel Fantz: „Wissen wir denn, was wir langfristig brauchen werden? Wollen wir uns neuen Technologien verschließen?“ 

Christoph Pistner: „Das ist eine Frage, die wir gesellschaftlich beantworten müssen. Wie viel Geld wollen wir in die Hand nehmen, um solche Entwicklungen möglich zu machen. Es wird manchmal damit geworben, dass die Fusion das Energieproblem der Menschheit lösen wird. Das wird sie nicht. Fusionskraftwerke werden großtechnische Anlagen sein, die viele Mrd. Euro pro Anlage kosten werden und die für den Grundlastbetrieb ausgelegt sind. Wer wird sich das leisten können? Und werden wir 2050 überhaupt noch Energiesysteme haben, in denen wir in hohem Maße Grundlastkraftwerke brauchen? Oder werden wir da nicht eher in Systemen sein, die sehr stark auf fluktuierenden Energien aufbauen, weil Wind und Photovoltaik einfach die günstigeren Energien sind?“

Ursel Fantz: „Der Energiehunger der Weltbevölkerung wird allerdings nicht nachlassen, das dürfen wir bei solchen Diskussionen nicht aus dem Blick verlieren. Wenn wir den Bedarf auch in Zukunft decken wollen, dürfen wir uns keiner Option verschließen. Das gilt gerade auch für Länder, die keinen direkten Zugriff auf bestimmte Rohstoffe haben.“ 

 

Vielen Dank für das Gespräch.

Text: Anne-Katrin Wehrmann