Mikrosystemtechnik: Winzige, intelligente und zuverlässige Schlüsseltechnologie für Zukunftsmärkte
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Fast unbemerkt haben Mikrosysteme Einzug in unseren Alltag gehalten. In Mobiltelefonen und Tablets arbeiten sie als Lautsprecher, Mikrophone oder Beschleunigungssensoren. In Automobilen überwachen und steuern sie Airbags und andere Sicherheitssysteme. Das wirtschaftliche Potenzial von Mikrosysteme ist groß: In absehbarer Zukunft werden sich Wearables und autonome Fahrzeuge flächendeckend durchsetzen.
Wenn einer eine Definition liefern kann, ist es Dr.-Ing. Frank Ansorge, Leiter der Gruppe Interconnect Systems der Fraunhofer-Einrichtung für Mikrosysteme und Festkörper-Technologien (EMFT) in München. Seit über 30 Jahren forscht er auf diesem Gebiet. Seine Definition ist bewusst vage: „Mikrosysteme kombinieren Elektronik, Mechanik, Pneumatik, Hydraulik, Optik, Chemie und Biochemie auf kleinstem Raum zu hochintegrierten intelligenten Lösungen. Der Raum kann einige Millimeter klein sein, oder nur einige Mikrometer.“ Tatsächlich gibt es keine exakte Grenze, an der ein komplexes „System“ – also ein Gerät, eine Maschine oder Anlage – zum Mikrosystem wird. Die Unschärfe in der Definition spiegelt sich in der Wortwahl wider: Während in Europa MST etabliert ist, bevorzugen Forscher und Entwickler in den USA den Begriff Microelectromechanical Systems (MEMS) und in Japan Mikromaschinen.
Zwei Beispiele belegen die enorme Bandbreite der Anwendungsbereiche der MST – und sind zudem ein Hinweis auf die Anwendungsschwerpunkte der Zukunft: die kostengünstige medizinische Point-of-Care-Diagnostik sowie die intelligente und zuverlässige Mikrosensorik für die Fahrzeugtechnik.
Papiersensoren, im Fachjargon µPADs (Microfluidic Paper-based Analytical Devices), lernte Dr.-Ing. Can Dincer 2018 als Gastforscher am Imperial College in London kennen: „Ich war sofort begeistert von der Vielseitigkeit der Analytik, die mit diesen einfach aufgebauten Mikrosysteme möglich ist. Jetzt entwickeln wir in Deutschland elektrochemische µPADs weiter.“ Als erstes Forschungsergebnis stellte Dincer, der heute an der Universität Freiburg tätig ist, 2019 einen Sensor vor, der den Anteil an Wasserstoffperoxid (H2O2) in ausgeatmeter Luft misst. Dieser Anteil steigt bei Entzündungen der Atemwege, z.B. bei einer Lungenentzündung, bei Asthma, Lungenkrebs oder COVID-19. Der nur wenige Quadratzentimeter große Sensor passt in eine herkömmliche Atemmaske. Wird die H2O2-Messung in regelmäßigen Abständen wiederholt, kann der Krankheitsverlauf erfasst und die Wirksamkeit einer Therapie überwacht werden.
Konventionelle Geräte zur indirekten Messung von Bestandteilen des Atemkondensats gibt es seit geraumer Zeit. Aber sie sind unhandlich, teuer und fehleranfällig. Dagegen ist der Freiburger Papiersensor kostengünstig herzustellen und einfach zu handhaben. Eine elektrochemische Messzelle, die sonst eher die Größe einer Kaffeetasse hat, ist auf einem kleinen Papierstreifen untergebracht. Sobald das Papier mit feuchter Atemluft benetzt wird, transportiert die Feuchte das H2O2 im Papier zu einer Kohlenstoffelektrode, an der es einen Farbstoff oxidiert. Die anschließende Rückreduktion liefert ein Stromsignal, dessen Höhe proportional zur Konzentration des H2O2 ist. Die Fertigung des elektrochemischen µPADs gelingt mit handelsüblichen Geräten: Zunächst wird das Muster der Messzelle mit einem Wachsdrucker auf das Papier gebracht. Beim Erwärmen sinkt das Wachs ins Papier ein und definiert den Reaktionsraum. Elektroden und Zuleitungen entstehen schließlich durch Siebdruck mit Silber- und Kohlenstoffpasten. Zur Stabilisierung ist der Papiersensor auf einem Kunststoffplättchen fixiert.
Dincer erläutert: „Unsere Membranen können auch Biomoleküle wie Nukleinsäuren, Antikörper oder Enzyme tragen. Deshalb lassen sich auf dem Chip vielstufige Reaktionsketten durchführen, die letztlich wieder das elektrochemisch detektierbare Signale wie H2O2liefern.“ So erzeugt ein mit dem Enzym Glucoseoxidase präparierter Chip H2O2, wenn die Atemluft Glucose enthält. Damit lässt sich die Blutzuckerkonzentration blutlos und nicht-invasiv messen. Aktuell arbeitet das Dincer-Team an einem anderen Messsystem auf Polymerbasis, das microRNAs im Blutserum erkennt. MicroRNAs sind hochspezifische Signalmoleküle für eine Vielzahl von Krankheiten, etwa für bestimmte Krebsarten. Um gezielt nur eine der vielen microRNAs zu erfassen, nutzen die Freiburger einen als „Genschere“ bezeichneten Schlüsselmechanismus – im Fachjargon CRISPR/Cas-Technik (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats/CRISPR-associated). „Unser Mikrosensor funktioniert ohne RNA-Vervielfältigung und ist fünf- bis zehnmal empfindlicher als optische Methoden, die mit CRISPR/Cas arbeiten. Zudem braucht unser Verfahren keine komplizierten Laborgeräte und könnte in einigen Jahren als Schnelltest auf viele Krankheiten in jeder Arztpraxis eingesetzt werden“, sagt Dincer, der zudem derzeit mit Hochdruck einen Mikrosensor entwickelt, der COVID-19 nachweist.
Die Fraunhofer EMFT-Gruppe um Dr. Frank Ansorge rüstet die in großer Menge von Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagen- sowie Fahrzeugbau benötigten elektrischen Verbindungselemente wie Stecker, Klemmen und Kabelschuhe mit Mikrosensorik und -elektronik auf. Ansorge erläutert: „Die integrierte MST macht die Verbindungselemente nicht größer und schwerer – aber intelligent. Sie können Energie oder Daten weiterleiten und zusätzlich Diagnosefunktionen übernehmen.“ Ein solcher Stecker kontrolliert z.B. permanent die Temperatur in der Nähe der Kontaktstelle, die sich durch mechanische Beanspruchung und Materialalterung erhöhen kann. Die integrierte Auswerteelektronik meldet den Anstieg drahtlos an ein Endgerät, in dem die Informationen über die aktuellen Zustände vieler Verbindungselemente per WLAN zusammenfließen. Weil Degradationsvorgänge meist einen typischen Temperaturverlauf zeigen, kann der Güteabfall einer Verbindung frühzeitig erkannt und die Verbindung vor dem Totalausfall erneuert werden.
Der intelligente Diagnosestecker überwacht nicht nur seine eigene Zuverlässigkeit, sondern auch die der angeschlossenen Geräte. „Inzwischen integrieren wir in die Stecker Mikrosensoren, die auch den Stromfluss, die Kontaktkraft und andere physikalische Parameter messen. Dadurch gewinnen wir auch Informationen über den aktuellen Zustand von Motoren, Pumpen, Scheinwerfern und anderen Verbrauchern“, erläutert Ansorge. Somit kontrollieren Mikrosysteme das Makrosystem. Weil die zu messenden Effekte klein sind und nur in unmittelbarer Umgebung des Kontaktes unverfälscht auftreten, spielt ein hoher Miniaturisierungsgrad der verwendeten Sensor-, Aufbau- und Verbindungstechniken eine entscheidende Rolle.
So unterschiedlich Aufbau und Funktionen der Stecker sind, so verschieden sind die Methoden zur Integration von Gehäuse, Kontakten und Mikrosystemen. Komplexe dreidimensionale Strukturen aus Kunststoff, Metall und Halbleiter lassen sich mit der 3D-MID-Technik (MID = Molded Interconnect Devices) erzeugen, bei der mehrere Kunststofflagen im Spritzgussverfahren nacheinander geformt und teilweise metallisiert werden. Zunehmende Bedeutung gewinnen additive Techniken wie der 3D-Druck oder das Selektive Laserschmelzen. Mit ihnen lassen sich komplexe Stecker in dünnen Schichten Schritt für Schritt aufbauen. „Wir haben gezeigt, dass Stecker viel mehr können als nur Kontakte herstellen“, beschreibt Ansorge. „Jetzt geht es darum, mit industriellen Partnern kostengünstige und nachhaltige Methoden für ihre Massenproduktion zu entwickeln.“ Seine Vision ist der bionische Stecker – aber wie der aussehen könnte, verrät er noch nicht.
Angesichts der unscharfen Definition und der Breite des Anwendungsspektrums wundert nicht, dass auch die Marktanalysen weit streuen. In einer aktuellen Studie ermittelt der US-Marktanalyst Allied Market Research (AMR) für MST-Sensorik im Jahr 2018 ein globales Volumen von 25,7 Mrd. USD. Der indische Analyst Market Research Future kommt dagegen nur auf 16,1 Mrd. USD. Den weltweiten Umsatz mit MEMS schätzt AMR für 2018 auf 48,7 Mrd. USD und die zukünftige jährliche Wachstumsrate auf 11,3 %. Bis 2026 würde das Volumen danach auf fast 123 Mrd. USD wachsen.
Übereinstimmend attestieren alle Marktforscher der MST mit 10 bis 11 % jährlich ein überdurchschnittliches Wachstum. Treiber sind vor allem der anhaltende Ausbau der Funktionalitäten, mit denen die Hersteller tragbare Elektronik vom Mobiltelefon bis zum GPS-Wandernavi ausstatten, der Wunsch von Autofahrern und Logistikbranche nach immer mehr Sicherheit, Komfort und Zuverlässigkeit von Kraftfahrzeugen, die steigende Nachfrage nach handlichen IoT-Geräten (IoT = Internet of Things), die die elektronischen Systeme miteinander vernetzen, sowie der wachsende Bedarf an einfacher medizinischer Vor-Ort-Diagnostik. Deutschland ist in diesem dynamisch wachsenden Markt gut aufgestellt: Weltweit zweitgrößter Player ist nach dem US-Unternehmen Broadcom die Robert Bosch GmbH. Beide erzielten mit MST 2017 jeweils einen Umsatz von ca. 1,4 Mrd. USD.
Größte Wachstumsbremse – da sind sich die Experten einig – ist die mangelnde Standardisierung der Herstellungsprozesse für MST-Komponenten. Im Gegensatz zur Halbleiterfertigung erzwingen die Vielzahl der zu verarbeitenden Materialien und die Vielzahl der erwünschten Funktionen eine Fülle unterschiedlicher teilweise kundenspezifische, teilweise anwendungsspezifische Verfahren. Dincer und Ansorge – und mit ihnen die Mikrosystemtechniker weltweit – werden noch einige Hürden nehmen müssen.
Copyrights: Patrick Seeger/Universität Freiburg, Bernd Müller/Fraunhofer EMFT
Ansorge studierte Werkstoffwissenschaften in Erlangen und promovierte an der Universität Karlsruhe. Nach dem Studium spezialisierte er sich auf MST. Ab 1995 war er am Fraunhofer Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM), Berlin, tätig. Seit 2017 arbeitet er an der Fraunhofer-Einrichtung für Mikrosysteme und Festkörper-Technologien (EMFT), München.
Dincer studierte Mikrosystemtechnik in Freiburg und promovierte dort 2016. Anschließend war er Gastforscher am Department of Bioengineering des Imperial College London. Heute ist er Leiter am Freiburger Zentrum für interaktive Materialien u. bioinspirierte Technologien sowie Leiter der Gruppe Einweg-Mikrosysteme am Institut für Mikrosystemtechnik der Universität Freiburg.