Zum Ernten ins Meer - Landwirtschaft unter Wasser

Schnelles Wachstum unter Wasser

Statistisch betrachtet leben auf der Erde jeden Tag 216.000 Menschen mehr als am Tag zuvor – und sie alle müssen ernährt werden. Eine aufsehenerregende Idee, neue Flächen für die landwirtschaftliche Nutzung zu erschließen, verfolgen die beiden Italiener Sergio und Luca Gamberini. An der Riviera bauen Vater und Sohn Gemüse an – aber nicht an Land, sondern unter Wasser.

Wenn Luca Gamberini ernten will, zieht er sich zuerst seinen Neoprenanzug an. Dann geht er zusammen mit einem Kollegen über den Strand, macht ein paar Schritte ins Ligurische Meer und taucht ab. Etwa 50 m vor der Küste schwimmt das Zwei-Mann-Team in eine am Meeresboden verankerte Kunststoffkuppel hinein, die nach unten offen und im Inneren mit Luft gefüllt ist. Hier, in einer Wassertiefe von rund 8 m, wachsen in breiten, an der Innenseite befestigten Schläuchen verschiedene Pflanzen. Gamberini greift sich die mitgebrachte Gartenschere, schneidet die reifen Früchte oder Kräuter ab und verstaut sie in einer wasserdichten Tasche, die sein Arbeitskamerad bereithält.

Basilikum, Thymian, Blattsalat, Bohnen, Zucchini, Tomaten, Pilze: Mehr als 30 unterschiedliche Pflanzen haben die Gamberinis schon unter Wasser gesät. Einige davon kamen mit den Bedingungen nicht klar – die meisten aber wuchsen und gediehen. „Was wir anbauen können, hängt mit dem Klima hier zusammen“, berichtet Luca Gamberini. „Es ist wie bei Gewächshäusern an Land: Wenn ich in Schweden Mangos anbauen möchte, ist das zwar grundsätzlich möglich, aber ökonomisch und ökologisch wahrscheinlich wenig sinnvoll.“ Der 34-Jährige ist mittlerweile nach eigener Aussage der größte Fan von Nemo’s Garden, wie seine Familie das Projekt getauft hat. Vor ein paar Jahren sah das noch anders aus: „Am Anfang hielt ich das für irrwitzig“, erzählt er. „Ich dachte, das Projekt nimmt mir doch nur Zeit von meiner eigentlichen Arbeit weg.“

Die eigentliche Arbeit, das ist bei den Gamberinis ihr Familienunternehmen Ocean Reef Group, das Tauchzubehör produziert und mit Firmensitzen im italienischen Genua sowie im kalifornischen San Marcos vertreten ist. Mit Landwirtschaft hatten weder der tauch- und surfbegeisterte Luca noch sein Vater etwas zu tun. Doch 2012 saß Sergio, Chemie-Ingenieur und Firmenchef, in seinem Urlaubsort Noli mit Freunden – darunter auch einige Landwirte – beim Abendessen und flachste, wie sich ihre jeweiligen Berufe wohl miteinander kombinieren ließen. „Warum versuchst du nicht, unter Wasser etwas zu ernten?“, fragte einer aus der Gruppe. Diese in einer Weinlaune geborene Idee nahm der heute 56-jährige Gamberini Senior zum Anlass, erste Versuche zu starten. In einem kleinen ballonartigen Gebilde pflanzte er zunächst an Land vorgezogenes Basilikum, das im Meer überlebte und weiterwuchs. Daraufhin säte er Basilikumsamen, die ebenfalls unter Wasser zu buschigen Gewürzpflanzen heranwuchsen. 

Luca Gamberini erntet im Meer

Von diesen schnellen Erfolgen angespornt, entschloss sich Sergio Gamberini, das Ganze größer aufzuziehen und Geld aus seinem Unternehmen zu investieren. Seinen Sohn Luca sowie einige Mitarbeiter und Helfer band er mit ein. In der Folge experimentierte das Team mit verschiedenen Pflanzen sowie mit Biosphären in unterschiedlichen Größen und Materialien, bis Nemo’s Garden schließlich 2015 an der Weltausstellung in Mailand teilnahm. Von da an wuchs die öffentliche Aufmerksamkeit rasant. „Mit der Expo wurde uns klar, dass das nicht nur irgendein Experiment, sondern tatsächlich ein ernsthaftes Projekt ist“, sagt Luca Gamberini.

Heute arbeiten sieben Mitarbeiter dauerhaft für und in Nemo’s Garden, vom Taucher über den Ingenieur bis zum Wissenschaftler. Die derzeit sechs installierten Unterwasser-Biosphären haben einen Durchmesser von jeweils 2 m und sind durch den in der Mitte platzierten „Lebensbaum“ miteinander verbunden, der die Technik bereitstellt und von dem die Kabel abgehen – denn die Gewächshäuser haben sich mittlerweile zu einem Hightech-Labor mit Internet, Kameras und diversen technischen Überwachungssystemen entwickelt. Gesteuert werden sie von einer kleinen Kommandozentrale am Strand aus. „Das Tolle ist, dass es sich um einen Kreislauf handelt, der sich selbst am Laufen hält“, erläutert Luca Gamberini das Funktionsprinzip. So kondensiert das Meerwasser an den Innenwänden der Biosphären, verliert dabei sein Salz und versorgt die Pflanzen mit Süßwasser. Pestizide werden nicht benötigt, weil es in der Unterwasser-Luftblase keine Schädlinge gibt. Sollten darüber hinaus die aktuellen Versuche zur Herstellung von Biodüngern aus Algen zu praxistauglichen Ergebnissen führen, wären die Biosphären künftig komplett autark.

Schnelleres Wachstum als an Land

Das Sonnenlicht, das in Nemo’s Garden ankommt, reicht den meisten Pflanzen aus. Der erhöhte Druck unter Wasser, die hohe Luftfeuchtigkeit und die vergleichsweise konstanten Temperaturen erweisen sich als hervorragende Rahmenbedingungen: Gemüse und Kräuter wachsen sogar schneller als an Land. „Basilikum können wir zum Beispiel alle vier bis sechs Wochen ernten“, berichtet Gamberini. Geschmacklich unterscheide sich die Ernte kaum von dem, was man kenne. Chemische Analysen hätten allerdings gezeigt, dass die Konzentration ätherischer Öle höher sei als bei Landpflanzen: „Wie das alles genau zusammenhängt, erforschen wir noch.“ Den größten Teil der Ernte nutzt das Projektteam für seine Untersuchungen. Einzige Ausnahme: Jedes Jahr im September gibt es eine große Party am Strand von Noli, bei der interessierte Gäste mit frischen Speisen aus dem Meer verköstigt werden.

Mehr als 250.000 € haben die Gamberinis inzwischen in das Projekt investiert. Für Vater und Sohn ist das Ganze längst zu einer Herzensangelegenheit geworden. „Wir sehen überall auf der Welt, was der Klimawandel anrichtet“, meint der 34-Jährige. „Wir leben im Zeitalter der Verantwortung: Die Menschen müssen endlich die Augen öffnen für alles, was mit Umweltfragen und nachhaltigem Wirtschaften zu tun hat.“ Seine persönliche Vision sei es, Unterwasser-Biosphären an möglichst vielen Orten der Welt zu installieren, um so einen Beitrag zur nachhaltigen Ernährung zu leisten.

Kritische Stimmen wie die, dass es viel zu aufwendig sei, unter Wasser Landwirtschaft zu betreiben und Taucher zum Ernten zu schicken, sind Luca Gamberini bekannt. Trotzdem ist er überzeugt davon, dass sich eines Tages Geld damit verdienen lässt. „Das Potenzial ist auf jeden Fall da, wir haben schon eine steile Lernkurve hinter uns.“ Sein Team experimentiert mit verschiedenen Ideen, die die Wirtschaftlichkeit erhöhen könnten. Im Gespräch sind die Anbindung an eine Fischfarm, deren Kot als Dünger nutzbar wäre, oder ein hydraulisches System, das die Gewächshäuser zur Ernte nach oben fährt. Einen erfüllenderen Job kann sich Luca Gamberini kaum vorstellen: „Experimentieren heißt, eine eigene Idee umzusetzen – etwas Besseres kann es doch gar nicht geben. Jeder, der dazu die Gelegenheit hat, würde daraus eine immense Freude ziehen.

 

Text: Anne-Katrin Wehrmann
Quelle: OCEAN REEF GROUP - NEMO'S GARDEN