Strenge Hierarchien und starre, langfristige Ziele waren gestern: In Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung ändern sich die Rahmenbedingungen für Unternehmen permanent, was Führungskräften ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit abverlangt. Orientierung bietet VUCA – ein Modell, das die immer komplexer werdende Umwelt beschreibt, auf die es sich einzustellen gilt.
VUCA steht für die englischen Wörter volatility (Volatilität), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit). Ursprünglich stammt das Modell aus dem Sprachgebrauch des amerikanischen Militärs, wo es nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelt wurde, um die „neue Welt“ mit ihren unklaren Prozessen und Strukturen zu beschreiben. Eine größere Bekanntheit erlangte der Begriff nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Auch Willms Buhse, Managementberater und Experte in Sachen Digitale Transformation, hörte damals das erste Mal von VUCA: „Zu dieser Zeit war ich gerade beruflich in New York und konnte erleben, wie sich der Begriff in der Öffentlichkeit, die über eine grundlegende Veränderung internationaler Beziehungen diskutierte, verbreitete“, berichtet er.

In den folgenden Jahren übernahm die Wirtschaftswelt das Akronym und nutzt es mittlerweile vermehrt sowohl im Projektmanagement als auch in der allgemeinen Unternehmensführung. Denn auch hier müssen sich Entscheider mit ähnlich uneindeutigen Umständen zurechtfinden. Die moderne Arbeitswelt ist einem ständigen Wandel unterworfen und damit volatil wie nie: Produkte und Prozesse ändern sich rasant, Unternehmen treten in den Markt ein und verschwinden wieder, Preise und Aktienkurse schwanken in unregelmäßigen Abständen. Aus diesen unsicheren Rahmenbedingungen folgt, dass Ereignisse immer weniger vorhersehbar sind, was langfristige Planungen praktisch unmöglich macht. Zunehmend komplex wird das System dadurch, dass in einer digitalisierten Welt immer mehr Informationen zur Verfügung stehen, von denen viele (global) miteinander verknüpft sind. Einflussfaktoren und gegenseitige Abhängigkeiten nehmen zu, wodurch vieles undurchsichtig und schwer berechenbar wird. Da sich die vorhandenen Informationen zudem häufig auf unterschiedliche Weisen interpretieren lassen, stellt sich die Gesamtlage mehrdeutig dar – und jede Entscheidung kann letztlich viele mögliche Konsequenzen haben. Vor diesem Hintergrund stoßen traditionelle Methoden der Unternehmensführung an ihre Grenzen: Gefragt ist eine moderne Führungsstrategie, die Mittel und Wege finden muss, den Wandel aktiv zu gestalten.
Veränderung ist die einzige Konstante
„Unternehmen befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und einem sich stetig verändernden Umfeld“, macht Willms Buhse deutlich. „Man könnte sagen, die einzige Konstante ist die Veränderung an sich.“ Diffuse Lagen, also VUCA-Lagen, seien im Prinzip an der Tagesordnung. Unternehmenslenker würden deswegen häufig auf Sicht fahren. „Die Corona-Pandemie ist ein hervorragendes Beispiel: Was heute gilt, kann morgen schon wieder ganz anders sein“, erläutert der Digitalisierungsexperte. „Deshalb ist es für Unternehmen so wichtig, mit dem Wandel umzugehen und sich schnell auf neue Herausforderungen einzustellen.“ Digitale Transformation sei keine Frage des „Ob“ mehr, sondern nur noch eine Frage des „Wohin“ und des „Wie“. Den einen und einzigen richtigen Weg gibt es nach seiner Aussage nicht. Entscheidend sei, sich das Unternehmen, seine Partner und vor allem seine Kunden genau anzuschauen. Nur so könne digitale Transformation gelingen.
Buhse selbst empfiehlt seinen Kunden einen offenen Umgang mit Transformationen, also auch mit volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Lagen. Er nennt diese Herangehensweise das VOPA-Prinzip, wobei VOPA für Vernetzung, Offenheit, Partizipation und Agilität steht. Mit diesem Ansatz einer agilen Führung beschreibt er, inwiefern sich Unternehmens- und Führungskultur im Sinne einer verstärkten Offenheit und Vernetzung von Kanälen, Ressourcen und Zuständigkeiten wandeln sollten. „Besonders die Zuständigkeiten müssen klar definiert sein“, betont er, „aber eben auch offen werden für mehr Partizipation.“ Dazu gehört es nach seiner Auffassung auch, Beschäftigte positiv in ihrer Selbstständigkeit zu bestärken – inklusive einer erhöhten Entscheidungsfreiheit und verbunden mit einer toleranteren Fehlerkultur. „Das bewirkt im Ergebnis echte Agilität, anstatt der Planlosigkeit einfach einen neuen Namen zu geben.“
Agiles Handeln ist laut Buhse die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Handhabe von VUCA-Welten. In einem ersten Schritt müsse man dafür die Rahmenbedingungen akzeptieren, betont er: Erst diese Akzeptanz mache es möglich, sich auf kundenorientierte Lösungen zu konzentrieren. „Wichtig für den Erfolg ist, dass alle, von der Führungsetage bis zu den Werksstudenten, ihren Job mit dem richtigen Mindset angehen. Dass sie offen und bereit sind für Veränderungen, Verantwortung übernehmen, auch mal out of the box denken.“ Partnerschaftliche Zusammenarbeit sei in diesem Zusammenhang ebenso erforderlich wie ein regelmäßiger Check der Prioritäten, die sich jederzeit verändern könnten. „Führung muss in einer agilen Organisation also vor allem einen strukturellen Rahmen geben und innerhalb dieses Rahmens Prioritäten setzen. Wenn Unternehmen das in ihrem Alltag leben, gelingt es ihnen auch, diffuse Lagen zu meistern.“
Neue Strategien alleine reichen nicht aus
Auch der Trainer und Coach Jens Nadig hat festgestellt, dass der VUCA-Ansatz bei Führungskräften in den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Eine wesentliche Herausforderung liegt nach seiner Erfahrung darin, dass es in der Regel nicht ausreicht, eine neue Strategie zu entwickeln oder mit neuen agilen Methoden zu arbeiten. „Letztlich erfordert das eine komplette Veränderung der Organisation dahingehend, dass eine veränderte Kultur entsteht“, meint er. Während in früheren Zeiten das höchste Ziel vieler Unternehmen die Effizienzerhöhung gewesen sei, sei es zuletzt immer wichtiger geworden, Innovationen zu entwickeln und sich dynamisch den Anforderungen des Marktes anzupassen. „Und das bedarf nicht nur einer veränderten Führung, sondern eben auch einer neuen Unternehmenskultur, die genau das ermöglicht. Das macht es spannend und herausfordernd zugleich, denn Kultur lässt sich nicht auf Knopfdruck verändern.“
Zu den großen Vorteilen von VUCA gehört es nach Ansicht des Fachmanns, dass das Modell eine gute Analyse der komplexen aktuellen Situation ermöglicht. Damit verbunden ist aber auch ein Nachteil: Es handelt sich dabei lediglich um eine Beschreibung, die noch keine Antworten oder Lösungen bietet. Für ihn sei VUCA deswegen schon fast so etwas wie ein Reizwort geworden, berichtet Nadig. „Ich habe stellenweise das Gefühl, dass das nur als Etikett benutzt wird, unter dem so eine Art Scheinveränderung erfolgt. Das, worum es wirklich geht, wird oft gar nicht oder erst sehr spät verstanden.“ Entscheidend seien nicht Methoden und Arbeitsweisen, sondern die offene Haltung und die Organisationsstruktur.
Nadig ist davon überzeugt, dass Unternehmen den noch immer häufig vorherrschenden Ansatz der Prozessoptimierung durch einen Prozessmusterwechsel ablösen müssen, dass also erst ein Aufbrechen bestehender Muster erforderlich ist, bevor diese verbessert werden können. Einer der wesentlichen Punkte hierfür sei eine tolerante Fehlerkultur: „Der Umgang einer Organisation mit Fehlern entscheidet mit, wie innovativ, flexibel und anpassungsfähig sie ist“, erläutert er. „Anpassungsfähigkeit muss im Zentrum jeder Unternehmensstrategie für den Umgang mit der VUCA-Welt stehen.“ Wie das im Detail und im Einzelnen aussehen könne, ist laut Nadig individuell vom Unternehmen, vom jeweiligen Markt sowie von den aktuellen Rahmenbedingungen abhängig.
Corona-Pandemie als „maximale VUCA“
Seinen Ursprung hatte das gesamte Thema des agilen Arbeitens kurz nach der Jahrtausendwende in einem Sektor genommen, in dem die Veränderungsdynamik besonders hoch ist: in der Software-Entwicklung. Bis heute hat sich nichts daran geändert, dass die IT-Branche zu den Vorreitern in diesem Bereich gehört. Mittlerweile stellt allerdings kaum noch jemand in Frage, dass die Zusammenhänge in der modernen Arbeitswelt insgesamt immer komplexer werden – und damit ist in den vergangenen Jahren auch die Akzeptanz des VUCA-Modells gestiegen. Zwar sei diesbezüglich gerade in Deutschland anfangs eine gewisse Zurückhaltung zu spüren gewesen, berichtet Managementberater Willms Buhse. „Aber mittlerweile stellen wir fest, dass immer mehr Manager sich diesen Herausforderungen stellen und sich pragmatische Lösungen wünschen.“ International sehe er hier die Länder ganz vorne, die auch digital führend seien: zum Beispiel die USA, China oder Estland.
Zu einer Weiterentwicklung führt nach seiner Aussage die aktuelle Corona-Krise, die er als „maximale VUCA“ beschreibt. Die Pandemie hat demnach die Erwartungshaltung von Kunden und Mitarbeitern an Unternehmen entscheidend verändert: Fast alle Organisationen seien aktuell gezwungen, ihre Digitalstrategie anzupassen, woraus sich eine massive Beschleunigung in allen Lebensbereichen ergebe. Das betrifft den Online-Handel ebenso wie den Bereich Homeoffice oder die Entwicklung digitaler Gesundheitsdienstleistungen, macht Buhse deutlich. „Auf dem Weg von der vielzitierten Neuland-Strategie zum New Normal sind wir auf der Überholspur unterwegs.“
Porträts | Dr. Willms Buhse & Jens Nadig
Willms Buhse (50) ist Diplomwirtschaftsingenieur und Doktor der Wirtschaftswissenschaften. Mit seiner 2009 gegründeten Managementberatung doubleYUU begleitet er mittelständische Unternehmen und Konzerne aus unterschiedlichen Branchen bei ihrer digitalen Transformation. Darüber hinaus hat er sich als Bestsellerautor und international gefragter Keynote-Speaker für Digital Leadership einen Namen gemacht.
Jens Nadig (46) ist studierter Psychologe und hat sein Diplom an der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie gemacht. Schon während seines Studiums begann er als Trainer, Coach und Berater zu arbeiten. Seit 2017 betreibt er eine eigene Unternehmensentwicklung, die sich auf den Bereich der Organisations- und Personalentwicklung spezialisiert hat.