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Ingenieurskunst trifft Fliegermut

Seit 1907 lobte eine Londoner Tageszeitung den Daily Mail Aviation Prize für besondere Flugleistungen aus. Mit jedem Wettbewerb wurden die Vorhaben ambitionierter, bis im Jahr 1919 mit der ersten Antlantiküberquerung das Unmögliche möglich gemacht werden sollte. Den Briten John Alcock und Arthur Whitten Brown gelang der Nonstop-Trip - der Weltruhm eines Charles Lindbergh blieb ihnen jedoch trotz des Erfolges verwehrt.

Flugzeugmechaniker Alcock und Ingenieur Whitten Brown gingen auf volles Risiko 

Vor John Alcock und Arthur Whitten Brown lag die mit Hacken und Spaten angelegte 274 m lange Rollbahn von St. John’s an der Küste Neufundlands und östlichster Punkt Nordamerikas. Dahinter warteten knapp 3.700 km Atlantik, die es in maximal 72 Stunden zu bewältigen galt. Nur ein paar Sandwiches und Flaschen Bier dienten als Proviant, als Pilot Alcock bei sonnigem Wetter an diesem 14. Juni 1919 die Motoren um Punkt 13:40 Uhr Ortszeit zündete. Nur wenige Tage vor ihrem Start mussten zwei weitere Briten nach zwei Dritteln der Strecke aufgrund eines Motorschadens aus dem Ozean gerettet werden. Sie flogen eine Sopwith Atlantic mit der neuesten Version VIII des Eagle-Motors von Rolls-Royce mit zwölf Zylindern und einer Leistung von  270 kW (367 PS). Denkbar schlechtes Omen: Mit einem ähnlichen Modell dieses V-Motors war auch der Langstreckenbomber des Typs Vickers Vimy von Alcock und Whitten Brown ausgestattet. Doch sie vertrauten der Technik und bauten vor allem das Interieur des zweimotorigen Doppeldeckers um – statt drei Sitzen hintereinander schufen sie vorne einen Doppelplatz nebeneinander. Als die Vimy nur schwerfällig abhob, streifte sie beinahe die Bäume zwischen Startbahn und Meer. Der gelernte Flugzeugmechaniker Alcock und Ingenieur Whitten Brown kannten das Risiko: Ihr Flieger war weder bau- noch motorentechnisch für einen Flug dieser Dimension konstruiert. Im Bombenschacht verstauten sie statt der werksseitig vorgesehenen 1.100 kg  Sprengstoff 4.000 l zusätzliches Benzin, sodass sich das Startgewicht von 5,7 t auf 8,7 t erhöhte.

Eine Flug mit unvorhergesehenen Turbulenzen und Komplikationen

Dennoch brachte John Alcock die Vimy um 13:45 Uhr mit Rückenwind auf 300 m Höhe. Doch gegen 17 Uhr zog dichter Nebel auf, der selbst die Flügelspitzen vom offenen, zugigen und lauten Cockpit aus unkenntlich machte. Alcock steuerte nun im Blindflug, während Whitten Brown unablässig den Höhenmesser, das wichtigste Bordinstrument, kontrollierte. Als Kampfpiloten hatten beide auf unterschiedlichen Kriegsschauplätzen bereits 1.001 gefährliche Einsätze überstanden und dabei gelernt, schwierigen Situationen mit Ruhe und Konzentration zu begegnen. Nach mehr als einer Stunde zog Alcock den Flieger nach oben, um Whitten Brown oberhalb des Nebels die Navigation anhand des Sonnenstandes zu ermöglichen. Inmitten des Anstiegs brüllte urplötzlich der rechte Motor auf, ein ohrenbetäubender Lärm wie von einem Maschinengewehr. Beide sahen eine Flamme aus dem Krümmer des Abgasrohres schießen. Das Metall glühte, die Motorabdeckung schmolz und auf der Motoranzeige bildeten sich Hitzebläschen. Im selben Moment setzten die Batterien der in ihren Fliegeranzügen integrierten Heizkissen aus, sodass sie aufgrund der Ausfälle fortan sicht- und schutzlos waren. Zusätzlich schüttelten heftige Turbulenzen im Wolkengebirge oberhalb des Nebels die Vickers Vimy durch. Ihr zu großes Ladegewicht und der niedrigere Sauerstoffgehalt der Luft überforderten die Motoren – sie sanken unkontrolliert gen Meeresspiegel. Erst 20 m über dem Wasser gelang es John Alcock, die Maschine abzufangen.

"Kommuniziert wurde über Notizzettel"

Zu ihrem Glück verbesserte sich das Wetter bald. Um 21 Uhr waren sie wieder auf Kurs und Arthur Whitten Brown pumpte Benzin per Hand aus den Reserve- in die Regeltanks. Durch Zugwind und den defekten, dröhnenden rechten Motor war jede verbale Verständigung unmöglich – kommuniziert wurde über Notizzettel. Um 3 Uhr nachts, mehr als die halbe Distanz lag bereits hinter ihnen, steuerten sie erneut in ein Wolkengebirge. Wiederum sorgten Thermik und Turbulenzen für einen unkontrollierten Absturz aus 1,2 km Höhe. Dieses Mal fing Alcock die Maschine 6 m über der Wasseroberfläche ab. Doch kurz darauf bedeckte ein heftiger Schneesturm alle Instrumente, sodass diese nacheinander ausfielen. Bei Tagesanbruch waren die Flügelklappen so stark vereist, dass der Vimy Manövrierunfähigkeit drohte. Also wagte Arthur Whitten Brown einen Balanceakt auf den Tragflächen und enteiste die außen liegenden Klappen händisch mit einem Messer. Ein falscher Schritt und ein kleiner Riss in der sensiblen Statik hätten das sichere Ende der Vimy bedeutet. Doch trotz einer kriegsverletzungsbedingten Gehbehinderung meisterte der Brite unvorstellbare viermal hintereinander die wackeligen 20 m Spannweite von einem Tragflächenende zum anderen.

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Ingenieur Arthur Whitten Brown (li.) und Flugzeugmechaniker John Alcock schafften die erste Atlantiküberquerung. 

"Wir waren jederzeit optimistisch"

Somit erreichten John Alcock und Arthur Whitten Brown genau 15 Stunden und 57 Minuten nach Abflug in St. John’s am 15. Juni 1919 Clifden, West-Irland. Weil sie die warnende Handbewegung eines Einwohners als Begrüßungsgeste interpretierten, vollzogen sie eine Bruchlandung in einem irischen Moor, das sie für eine günstige Landungswiese hielten. Doch unbeschadet war ihnen der erste Nonstop-Atlantikflug der Geschichte gelungen. In Clifden übergaben sie zudem die weltweit erste transatlantische Luftpost, 197 Briefe mit dem kanadischen Abgangsstempel. „Wir waren jederzeit optimistisch“, begründeten die Flugpioniere ihren gemeinsamen Erfolg. Wenige Tage nach diesem historischen 15. Juni wurden John Alcock und Arthur Whitten Brown vom englischen König zum Ritter geschlagen. Aus der Hand des jungen Staatssekretärs Winston Churchill empfngen sie das Preisgeld der Daily Mail in Höhe von 10.000 £.
Nur sechs Monate später kam John Alcock bei einem Flugunfall in Frankreich ums Leben. Arthur Whitten Brown hingegen arbeitete zeitlebens als Ingenieur bei den Vickers-Werken. Dort las und hörte er, wie Charles Lindbergh acht Jahre später ihre Pionierleistung vergessen machte. Bewusst hatte der Amerikaner als Abflugort New York und als Ziel Paris gewählt, um die Weltpresse für sein Projekt zu gewinnen. Diese machte aus dem Überflug ein Medienereignis und aus Lindbergh einen Nationalhelden inklusive Konfettiparade. Demgegenüber konnten seine Vorgänger Alcock und Whitten Brown nicht einmal die Journalisten in der Daily- Mail-Zentrale informieren, seitdem ihr Funkgerät dem Nebeldrama zum Opfer gefallen war. Technisch war ihnen jedoch als Ersten geglückt, was zu dieser Zeit unmöglich erschien: Ein völlig überladenes Flugzeug mit unzureichenden Motoren und ungenügender Statik nonstop etwa 3.700 km über den Atlantik zu führen. Die Vickers Vimy ist bis heute im London Science Museum ausgestellt.

 

Text: Gerrit Reichert
Copyright Fotografie: Alamy Stock Photo

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