
Autonome Schiffe: Der Kapitän von morgen ist ein Hightech-Experte
Containerschiff RR-9835 ist auf dem Weg von Shang hai nach Rotterdam. An Bord sind 30.000 Standardcontainer, aber kein einziger Mensch: Das Schiff navigiert autonom. Über Satelliten tauscht es ständig Daten mit dem globalen Kontrollzentrum in Plymouth an der Südwestküste Großbritanniens aus. Die aktuelle Diagnose der Bordcomputer lautet: RR-9835 ist auf Kurs, jedoch etwas zu langsam. Auf der Global Wall des Kontrollzentrums, einem interaktiven Großdisplay für einen weltweiten Überblick zur autonomen Hochseeflotte, erscheint eine Warnmeldung. Der zuständige Operator reagiert zunächst mit einer Routineprozedur, dem Start einer schiffseigenen Drohne, die mit Kameras und Roboterarmen ausgerüstet auch kleine Reparaturen durchführen kann. Nach wenigen Minuten hat die Drohne das Schiff umrundet, jedoch an den Außenwänden keine Beschädigungen festgestellt. Ein Sensornetzwerk im Schiffsinneren bestätigt dies. Nach kurzer Analyse per Ferndiagnose steht fest: Ein elektronisches Steuermodul ist defekt. Ein Systemspezialist ruft den Ox Collaboration Table auf, ein Hologramm des gesamten Schiffes einschließlich aller Einzelkomponenten. An diesem beurteilt ein für das Schiff zuständiges Team die Auswirkungen des Schadens und beschließt, die Fahrt nicht zu unterbrechen, sondern das schadhafte Modul beim Entladen im Container-Terminal Rotterdam austauschen zu lassen.
Dieses futuristische Szenario des fiktiven Tankers RR-9835 basiert auf einer Designstudie des Marine-Bereichs von Rolls-Royce und gibt einen Ausblick auf die kommenden 10 bis 15 Jahre der Schifffahrt. Denn Oskar Levander, Vizepräsident für Innovation bei Rolls-Royce Marine, verfolgt einen ambitionierten Zeitplan: „Ab 2020 werden wir ein ferngesteuertes Schiff in Binnengewässern betreiben. Bis 2025 hoffen wir, ein autonomes Schiff auf offener See zu haben, und weitere fünf Jahre danach sollen unbemannte Ozeanschiffe ein alltäglicher Anblick sein.“ In der Tat sind praktisch alle notwendigen Technologien schon heute oder in naher Zukunft kommerziell verfügbar: etwa visuelle und thermische Kameras, Drohnen, Infrarot, Radar, optische Abstands- und Geschwindigkeitsmessung, Sonar und Echolot. Auch Spracherkennung, Wetterrouting, globale Navigationssatellitensysteme, Smart Screens und Virtual Reality (VR) existieren bereits.
Schiffe lernen aus ihren Erfahrungen
Eine VR-Brille soll dem Onshore-Kapitän beispielsweise ein Sichtfeld ermöglichen, das exakt dem auf der Schiffsbrücke entspricht – oder sogar besser ist: Zusätzlich werden ihm navigationsrelevante Daten eingeblendet, etwa Windrichtung und -geschwindigkeit, Entfernung zu Hindernissen oder Wassertiefe. Auch den aktuellen Zustand der Bordsysteme, zum Beispiel der Antriebsaggregate, kann er jederzeit abfragen. Über leistungsfähige Satellitenverbindungen auf hoher See, flankiert durch landgestützte Kommunikation in Küstennähe, werden die Daten zwischen Schiff und Kontrollzentrum in Echtzeit überliefert. Im autonomen Modus navigieren die Bordcomputer das Schiff autark. Nur in kritischen Situationen, etwa bei heftigem Unwetter, hohem Verkehrsaufkommen oder schwierigen Hafenfahrten übernimmt der Onshore-Kapitän per Fernsteuerung. Da die Navigations-Software selbstlernend sein wird, werden die Schiffe aus ihren Erfahrungen und denen anderer lernen. Die Zahl der Situationen, in denen ein Mensch die Kontrolle übernehmen muss, wird sich deshalb mit dem Ausbau autonomer Flotten stetig verringern.
Insofern könnten laut Rolls-Royce 10 bis 14 Mitarbeiter ausreichen, um in dem Kontrollzentrum eine Flotte von mehr als hundert unbemannten Schiffen rund um den Globus in Echtzeit zu überwachen und ihre Routen zu optimieren. Dadurch sinken nicht nur die Kosten enorm. Auch das Risiko von Havarien – zum Beispiel Brand, Explosion, Maschinenschaden, Kollision, Auf-Grund-Laufen – wird verringert. Denn weit mehr als die Hälfte aller Seeunfälle sind das Ergebnis menschlicher Fehler, oft infolge von Übermüdung. Natürlich müssen für die Schifffahrt der Zukunft die traditionellen Regelwerke für den Seeverkehr sowie Vorschriften über Seehaftung und Versicherungen angepasst werden. Denn ein Schiff ohne Kapitän gilt nach heutigem Recht als herrenlos und nicht versicherbar. Insgesamt macht die Autonomie das Berufsbild des Seefahrers laut Iiro Lindborg, General Manager für ferngesteuerten und autonomen Betrieb bei Rolls-Royce Marine, aber attraktiver: „Die Schiffstechnik wird immer komplexer und erfordert immer mehr hochspezialisierte Fachkräfte, die in der Regel wochenlang an Bord sein müssen.“ Dies entspräche jedoch nicht dem heutigen Lebensstil der meisten Menschen. In der autonomen Schifffahrt bleibt der Seefahrer mit hohem Ausbildungsniveau einfach an Land.
Doch sind autonome Schiffe nicht eine regelrechte Einladung für Hacker, das Schiff samt Ladung zu stehlen oder gar zu versenken? Lindborg sieht auch in der Cyber-Sicherheit eine lösbare Aufgabe: „Seit fast 20 Jahren leitet unser Geschäftsbereich Aero Services hochsensible Daten von mehr als 10.500 Flugzeugtriebwerken an die Betreiber weiter – zuverlässig und sicher. Auf diesen Erfahrungen wird die Datensicherheit auf See aufbauen.“ Eine internationale Projektstudie weist darüber hinaus auf einen anderen Aspekt hin: An die Stelle wartungsintensiver Dieselmotoren müssen Antriebsaggregate treten, die über Wochen verlässlich arbeiten oder auf hoher See eine Fernwartung zulassen, etwa durch Elektromotoren, die per Solarenergie angetrieben werden. Unterm Strich lassen sich derzeit verschärfte Umweltgesetze mit autonomen Flotten also leichter umsetzen. Auch das Design zukünftiger Schiffe wird sich vom heutigen deutlich unterscheiden, weil alle Einrichtungen für eine Besatzung überflüssig werden: Brücke, Kabinen, Kombüse, sanitäre Einrichtungen oder auch die Infrastruktur für Lüftung, Heizung und Abwasserbehandlung. Autonome Containerschiffe, Frachter und Tanker können somit komplett ummantelt sein und eher überdimensionalen Torpedos gleichen. Dieses geschlossene Design reduziert die Bau- und Betriebskosten, erhöht die Transportkapazität, verbessert die Hydro- und Aerodynamik, ermöglicht die Montage großflächiger Solarpanels und schützt vor Piraterie.
In der Theorie überwiegen die Vorteile somit deutlich. Doch sind sie in der Praxis auch umsetzbar? Ob zivile autonome Schiffe kommerziell erfolgreich sein können, haben Wissenschaftler im Rahmen des Ende 2012 gestarteten EU-Projekts MUNIN (Maritime Unmanned Navigation through Intelligence in Networks) untersucht. Ihr Fazit nach drei Jahren Forschung: Ein autonomes Handelsschiff wäre technisch machbar – aber zu teuer und nicht wettbewerbsfähig. Rolls-Royce-Spezialist Lindborg hält dagegen: „Die Herausforderung besteht lediglich darin, den optimalen Weg zu fnden, alle Technologien kostengünstig in einer marinen Umgebung zu kombinieren.“ Wo die Herausforderungen einer solchen Übertragung auf ein neues Anwendungsgebiet liegen, macht das Beispiel Sensorik deutlich: Um für ein autonomes Schiff das erforderliche Situationsbewusstsein zu erzeugen, sodass es die Umgebung auch unter extremen Witterungsbedingungen zuverlässig erfasst, müssen unterschiedliche Sensortypen miteinander gekoppelt werden. Wie dies für die Schifffahrt optimal und zugleich kostengünstig zu realisieren ist, wird gerade auf einer Fähre unter den rauen klimatischen Bedingungen Finnlands getestet. Im nächsten Schritt müssen die integrierten Daten in eine Navigations-Software eingespeist sowie mit elektronischen Seekarten verknüpft werden. So scheint Rolls-Royce für die kommenden Aufgaben durchaus gewappnet. Denn das Unternehmen mit über 50.000 Mitarbeitern kann auf Kompetenzen und Erfahrungen in der zivilen und militärischen Luftfahrt sowie in der Nuklear-, Kraftwerks- und Triebwerkstechnik zurückgreifen. Oskar Levander ist überzeugt: „Dank des breiten Know-hows auf den Gebieten Schiffsintelligenz, Design, Antrieb und Maschinenbau werden wir bei der Defnition der zukünftigen Schifffahrt eine führende Rolle spielen.“
Erste Prototypen für 2018 geplant
Aber Levander weiß auch, dass dieses anspruchsvolle Ziel nur im engen Schulterschluss zwischen Industrie, Wissenschaft und Regierungen erreichbar ist. Deshalb ist Rolls-Royce eine Reihe von Partnerschaften eingegangen. Zum Beispiel ist das Unternehmen Mitglied der Initiative für fortschrittliche autonome wasserbasierte Technologien (Advanced Autonomous Waterborne Applications Initiative, AAWA), einem Zusammenschluss von Universitäten, Schiffbauern, Reedereien, Klassifkationsgesellschaften und vielen mehr. Seit 2015 erforscht die AAWA diverse Faktoren, die beim Bau und Betrieb autonomer Schiffe zu beachten sind.
Erste Prototypen sind für 2018 geplant – die nächste Etappe auf dem Weg zur Schifffahrt von morgen. Künftig dürfte ein autonomes Stückgutschiff nach Berechnungen von Rolls-Royce die Transportkosten im Vergleich zu einem herkömmlichen um mindestens 20 % senken. Ein zusätzlicher Kostenvorteil entsteht, wenn sich autonome Schiffe durch Abgleich mit der Logistik-Software in die Verteilungsprozesse der Endkunden einklinken. Das gilt vor allem für kleinere Schiffe, die zum Betrieb eine weniger aufwendige Infrastruktur benötigen. Rolls-Royce-Experte Levander erwartet, dass die ersten zivilen, kommerziell genutzten ferngesteuerten und autonomen Schiffe regional verkehrende Schlepper und Autofähren sein werden: „Für sie sind behördliche Ausnahmeregelungen am leichtesten durchzusetzen.“ Die autonome Steuerung wird dann Schritt für Schritt auf größere Schiffe und andere Einsatzszenarien übertragen. Bis es so weit ist, lohnt ein Besuch des Trondheimfjords in Norwegen: Erste selbstfahrende Schiffe sollen in diesem weltweit ersten behördlich freigegebenen Testgebiet schon bald zur Realität werden.
Text: Dr. Ralf Schrank