Zukunftsszenarien urbaner Fortbewegung

Urbane Mobilität der Zukunft

Mobilität ist nicht gleich Verkehr. Mobilität wollen wir alle: Wir wollen beweglich sein und immer gut dorthin kommen, wo wir gerade hinwollen. Verkehr ist Mittel zum Zweck. Entscheidend für lebenswertere Städte und Klimaschutz ist eine Entwicklung hin zu weniger und umweltschonenderem Verkehr bei gleicher Mobilität. Die Verkehrswende dahin ist auf dem Weg und hat viele Gesichter.

Das Auto gibt Menschen seit jeher ein attraktives Mobilitätsversprechen: Personen und Güter können dorthin gelangen, wo sie hinwollen und -sollen. Um diese Freiheit möglichst grenzenlos zu gestalten, wurden Raum- und Siedlungsstrukturen teils bedingungslos an das Auto angepasst. So steht in Deutschland oft mehr als die Hälfte städtischer Fläche dem Autoverkehr zur Verfügung, ob als Fahrwege oder Parkraum. In Österreich ist diese Situation nicht viel anders. In Wien bspw. werden über 65% der Straßenflächen für den Autoverkehr (Fahren und Abstellen) verwendet1. Parkplätze zeigen die autogerechte Flächenaufteilung besonders drastisch: Ein regulärer Parkplatz misst mindestens zwölf Quadratmeter. In urbanen Milieus wird das Auto, wo es dysfunktional ist, Stück für Stück entzaubert. Vor allem zwei Aspekte haben den „Auto-Zentrismus“ zum Erliegen gebracht: einerseits der fortschreitende Klimawandel, andererseits ein veränderter Blick auf unsere Lebensqualität. Autofreundlichkeit ist kein relevantes Kriterium mehr. Es sind Sicherheit, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Usability, die Städte lebenswert machen. Der Verkehr wandelt sich entsprechend, aber wie genau sieht die urbane Mobilität von morgen aus? Mai 2051 – eine Stadt wie Wien, Salzburg oder Innsbruck: Emilia, 40 Jahre alt und User-Experience-Designerin, will nach einem Vormittag im Home Office zu einem Kundentermin am anderen Ende der Stadt. Dreißig Meter von ihrer Haustür entfernt steigt sie in eines der E-Shuttles, die im Zehnminutentakt durch das Quartier pendeln. Die Anwohner nutzen die Shuttlebusse kostenlos. Mit der Mobilitäts-App der Stadt meldet Emilia sich an und fährt drei Minuten bis zum nächsten Mobility Hub, eine ehemalige Tankstelle, jetzt ein Knotenpunkt für Mobilität. Hier finden sich in vielen Varianten E-Scooter, E-Bikes und autonome E-Autos zum Teilen, Ladestationen, eine Straßenbahn- und eine E-Bushaltestelle. Emilia entscheidet sich heute für ein E-Bike. Zwar ist das Wetter unbeständig, aber das Bike hat eine Leichtbau-Karosserie. Damit ist sie bestens geschützt. Die Schnellstraße für Fahrräder und der E-Motor bringen Emilia in 15 Minuten zu ihrem Ziel. Sie gibt das E-Bike per App wieder zur Nutzung frei, weil sie nach ihrem Termin noch Freunde im Nachbarort besuchen will. Dafür ruft sie ein autonomes Carsharing-E-Auto.

Mobility Trend Map
Die Mobility-Trend-Map des Zukunftsinstituts zeigt die Dynamik und die derzeit vorherrschenden Entwicklungen des Mobilitätssektors: Geclustert nach den Strömungen mit dem aktuell größten Einfluss auf die Mobilität, verdeutlicht die Map, dass einzelne Trends von mehreren Megatrends getrieben werden.

Porträt

Stefan Carsten

Stefan Carsten (42) analysiert als Berater, Autor und Speaker die wichtigsten Trends und Entwicklungen der Mobilität für Wirtschaft und Gesellschaft. Der Stadtgeograf setzt sich seit über 20 Jahren mit der Zukunft der Mobilität auseinander. Unter anderem ist der Wahl-Berliner Mitglied im Expertenbeirat für die ÖPNV-Strategie des Bundesverkehrsministeriums in Deutschland.

Fahrrad bleibt Ergänzung zum Auto

Dann muss sie zwar eine City-Maut-Gebühr zahlen, kann aber auf der Fahrt noch das Meeting-Protokoll schreiben. Später wird das Auto Emilia bis vor die Haustür bringen, bevor es selbstständig einen verfügbaren Mobility Hub ansteuert. In unserem fiktiven, aber denkbaren Beispiel finden sich Thesen, die unter anderem Zukunftsforscher Dr. Stefan Carsten sowie der Mobilitätsexperte Dr. Claus Habiger für den urbanen Raum vorhersagen: eine Zunahme der Rad- und ÖPNV-Nutzung, die Ablösung der Verbrennermotoren durch Elektroantriebe, mehr autonom fahrende und geteilte Autos sowie eine „Seamless mobility“, die verschiedene Verkehrsträger über digitale Applikationen möglichst ideal miteinander kombiniert. Dr. Stefan Carsten prognostiziert eine weitere Zunahme der Fahrradmobilität und begründet das mit zwei Beobachtungen:

1. Die Entwicklung neuer Fahrradtypen ist extrem dynamisch, und spätestens seit den ersten E-Cargobikes werden verschiedene Design-Prinzipien im Sinne einer besseren Nutzbarkeit zusammengebracht: Die sogenannten Xycles (oder Cross-Cycles) kombinieren Fahrrad und Auto, Transporteffizienz und Fahrkomfort, Sport und Beruf. Die neuen Räder erfüllen also fast jeden
Wunsch. Somit haben sie das Zeug zum nachhaltigen Statussymbol.

2. Das Fahrrad ist im Stadtverkehr ideal. Carsten argumentiert mit den Ergebnissen einer Studie des Umweltbundesamtes von 2020: „Die Hälfte aller Autofahrten ist kürzer als fünf Kilometer, und der Streckenvergleich zeigt, dass E-Bikes im Stadtverkehr bis zu einer Entfernung von etwa siebeneinhalb Kilometern das schnellste Verkehrsmittel sind.“ Tatsächlich steigt die
Zahl der Fahrradfahrenden im öffentlichen Raum. Allein in Berlin hat sich die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer zwischen 2005 und 2015 verdoppelt. In Wien ist die Anzahl der Fahrradfahrer an den Dauerzählstellen allein von 2019 auf 2020 um ca. 11,98% gestiegen². Jedoch bezweifelt Dr. Claus Habiger, dass das Fahrrad das eigene Auto konsequent ablöst: „Tendenziell wird das Fahrrad eine Ergänzung sein und das Auto wird manchmal stehengelassen.“ Habiger sieht eher den wieder aufzurüstenden ÖPNV als gangbare Alternative zum motorisierten Individualverkehr in der Stadt.

Kopenhagen ist übrigens die fahrradfreundlichste Stadt der Welt. In den letzten zehn Jahren wurden über 150 Millionen Dollar in die Fahrrad-Infrastruktur investiert. Die Ampeln erkennen Radfahrer und priorisieren sie. Mehr als 62 Prozent der Bewohner fahren mit dem Rad zur Arbeit, Schule oder Uni. Ein Zehntel fährt mit dem Auto. Wien hat 2019 im Copenhagenize Index, dem Ranking der fahrradfreundlichsten Städte der Welt, den neunten Platz belegt. Laut ADAC waren Anfang 2021 rund 80 elektrische Automodelle auf dem deutschen Markt für die etwa 40.000 öffentlich zugängliche Ladepunkte bereitstehen. Auf dem österreichischen Markt wurden im Oktober 2021 rund 100 elektrische Automodelle verzeichnet4. Ende November 2021 sind 1,4% des gesamten Pkw-Bestands in Österreich rein elektrisch betriebene Pkw, das entspricht einer Anzahl von 73.5885. Es gibt rund 9.500 öffentlich zugängliche Ladepunkte6. Um die E-Mobilität attraktiver zu machen, gibt es in vielen Ländern zusätzliche Impulse – z.B. durch den Bund in Deutschland und das Klimaschutzministerium (BMK) in Österreich: Kaufanreize, Ausbau der Lade-Infrastruktur, steuerliche Vorzüge für betriebliche E-Autos. Carsten beschreibt es so: „Die Politik hat sich durchgesetzt. Was die Automobilindustrie nie wollte, ist tatsächlich eingetreten: Dieselfahrzeuge und Benziner werden schon bald Vergangenheit sein, ebenso der Hybridantrieb.“ Die Hersteller bekennen sich Schritt für Schritt zu einer postfossilen Mobilität. Es produzieren keine Verbrenner mehr:

• ab 2025: Jaguar,
• ab 2028: Opel,
• ab 2030: Volvo, Mini, Fiat und Ford,
• ab 2035: VW und GM.

Carsharing verbessert die Raumverteilung in den Städten: Jedes geteilte Fahrzeug befreit laut dem Bundesverband CarSharing bis zu 99 Meter Straßenkante von parkenden Autos.

Porträt

Claus Habiger

Claus Habiger (58) ist Vizepräsident und Leiter der Geschäftsstelle von ITS Germany e.V. – seit 1989 der Verband der Wirtschaft und Wissenschaft für Verkehrstechnologien und intelligente Mobilität in Deutschland. Der Ingenieur, Spezialist für digitale Systeme und Doktor der Philosophie engagiert sich unter anderem als Berater der Bundesregierung für eine zukunftsfähige Mobilität in Deutschland und Europa.

Gent als führende Carsharing-Stadt

Angefangen hat es mit dem klassischen stationsbasierten Carsharing: Man holt das gebuchte Fahrzeug an Stationen ab und bringt es auch dorthin zurück. Die Dauer der Nutzung legt man vorab fest. Zusätzlich hat sich mittlerweile das Free-Floating-Carsharing etabliert. Eine App zeigt, wo das nächste verfügbare Auto steht, das man spontan und unbegrenzt nutzen kann. In einem definierten Gebiet kann es nachher auf jedem kostenfreien Parkplatz abgestellt werden. Das Peer-to-Peer-Carsharing, also das Verleihen des privaten Pkw zwischen Privatpersonen, entwickelt sich im deutschsprachigen Raum gerade erst als dritte Form des Carsharings über Online-Vermittlungsplattformen. Laut dem Bundesverband CarSharing konnten sowohl das stationsbasierte als auch das Free-Floating-Carsharing 2020 neue Nutzer gewinnen. Insgesamt stieg in Deutschland die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um 25,5 Prozent auf 2.874.400, auch in Österreich sind die Zahlen steigend. Die internationale Carsharing Association CSA zeichnete 2020 das belgische Gent als führende Carsharing-Stadt aus. Vor allem die politische Unterstützung ist hier ausgezeichnet: Ein umfassender Aktionsplan hat zum Ziel, dass zehn Prozent der Bürger geteilte Autos fahren. So nutzen etwa die kommunalen Behörden Carsharing konsequent und die geteilten Autos parken in Gent umsonst. Weltweit wird intensiv an der Entwicklung selbstfahrender Fahrzeuge gearbeitet. In diesem Jahr wurde sogar in Deutschland ein erster Rechtsrahmen für den Betrieb vollautonomer Fahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr geschaffen. Damit ist das Nachbarland das erste weltweit und es bleibt noch abzuwarten, ob Österreich ebenfalls nachzieht. Hierzulande gelten derzeit nur die Regeln der Verordnung zum automatisierten Fahren (AutomatFahrV), die am 19.12.2016 in Kraft getreten ist. Dr. Claus Habiger schätzt das Potenzial des autonomen Fahrens für die Mobilität als immens hoch ein. Jedoch sieht er zunächst den ÖPNV auf dem Land als Nutznießer: „Es ist realistisch, dass bereits in fünf Jahren automatisch fahrende Busse auf festen Routen im ländlichen Raum zum Einsatz kommen. Hier ist das für die Sicherheit wichtige Eintrainieren des Fahrersystems auf der Strecke deutlich einfacher und es gibt bereits konkrete Projektvorhaben, wie zum Beispiel erste autonome Shuttlebusse in Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen, Deutschland. Bis die Automatisierung in den Städten ankommt, vergehen sicher noch zehn Jahre. Die Anforderungen beispielsweise an die Reaktionsfähigkeit sind hier ungleich höher, denn es gibt einfach mehr Verkehr auf engerem Raum.“

Für das Carsharing wird die Automatisierung wesentliche Verbesserungen bringen. Warum? Dr. Stefan Carsten beschreibt es anschaulich: „Seit jeher bildet die letzte Meile das kritische Nadelöhr für das Gelingen eines nachhaltigen Verkehrssystems: Wen interessiert die reibungsfreie Fahrt, wenn man für die letzte Strecke durch den Regen laufen muss?“ Das gilt auch fürs Carsharing. Die Strecke zwischen meiner Haustür und der Station oder dem nächsten verfügbaren Auto kann die entscheidende Hemmschwelle sein. Dr. Claus Habiger erklärt, was sich durch die Kombination von Carsharing und Automatisierung ändert: „Holt das von mir gebuchte Auto mich on demand vor meiner Haustür ab, steigert das die Attraktivität von Carsharing ungemein.

Dann entscheiden nicht länger nur schwer finanzierbare Flottengrößen und wohnortnahe Stationen über den Erfolg von Carsharing-Angeboten.“ Auch der Bundesverband CarSharing sieht wesentliche Vorteile im Einsatz autonomer Fahrzeuge: Die Kosten für die Hardware und Software sind überschaubar und im Betrieb werden die höheren Anfangskosten durch die deutlich verbesserte Auslastung der Fahrzeuge kompensiert. Mobilität ganzheitlich gestalten. Sowohl Habiger als auch Carsten gehen davon aus, dass der bedarfsorientierte Zugriff auf modulare Mobilitätsangebote immer mehr Bedeutung erlangt. Das Smartphone ist hier der Generalschlüssel – es muss zentrale Applikationen geben, die alle Verkehrsträger und Bezahlsysteme bündeln. Das ist die nächste große digitale Herausforderung. Das Konzept „Mobility as a Service“ (MaaS) wurde 2014 in Helsinki, Finnland, im Rahmen von Überarbeitungen der Verkehrspolitik erstellt. Es ist die Bündelung verschiedener Mobilitätsangebote in einer einzigen digitalen Plattform (App). Hinter MaaS verbirgt sich das Leitprinzip „Nutzen statt Besitzen“: Es stellt die serviceorientierte Dienstleistung Mobilität in den Vordergrund. Im Februar 2021 ist „Mobility as a Service“ mit der wegfinder-App auch in Österreich angekommen. Hier sind bspw. einheitliche, intuitive Buchungs- und Zahlungsvorgänge für alle Mobilitätsangebote möglich.7 Es gibt jedoch noch weitere geplante Projekte, um die Mobilitätswende voranzutreiben. Habiger betont mehr noch den politischen Gestaltungswillen als Erfolgskriterium für eine gelingende Seamless, also die Vision einer vernetzten Mobilität, die nicht mehr in unterschiedlichen Verkehrsmitteln gedacht und organisiert wird, sondern entlang von Mobilitätsketten. Um dies zu erreichen, muss Mobilität ganzheitlich gestaltet und gesteuert werden. „London zeigt, wie es geht: Die 2001 gegründete zentrale Behörde ‚Transport for London‘ koordiniert den gesamten Verkehr in der britischen Hauptstadt – von U-Bahn über Straßen bis hin zu Radwegen und Taxis. Seit 2003 treibt sie auch eine City-Maut ein. Hier wurden Strukturen geschaffen, die eine weitsichtige Planung überhaupt erst möglich machen. Genau so und nur so kann Mobilität im urbanen Raum konzertiert geplant und im Sinne der Bürger smart gestaltet werden.“

Quellen:

  1. Handlungsfeld "Öffentlicher Raum" - Fachkonzept Mobilität. Stadt Wien | Stadtentwicklung. Abrufdatum: 22.12.2021 (Link)
  2. Anzahl der Radfahrenden an den Dauerzählstellen in Wien in den Jahren 2019 und 2020. Statista, P. Hezel. Veröffentlichungsdatum: 26.02.2021, Abrufdatum: 22.12.2021 (Link)
  3. The most bicycle-friendly cities of 2019. Copenhagenize. Abrufdatum: 22.12.2021 (Link)
  4. Elektroautos: Alle Modelle, Testberichte, technischen Daten & Preise [2021]. Autorevue Online. Veröffentlichungsdatum: 14.11.2021, Abrufdatum: 22.12.2021 (Link)
  5. E-Autos (BEV) in Österreich 2021. Bundesverband Elektromobilität Österreich (BEÖ). Abrufdatum: 22.12.2021 (Link)
  6. E-Ladepunkte in Österreich. Bundesverband Elektromobilität Österreich (BEÖ). Abrufdatum: 22.12.2021 (Link)
  7. Mit wegfinder ist Mobility as a Service in Österreich angekommen. Die Presse. Veröffentlichungsdatum: 11.02.2021, Abrufdatum: 22.12.2021 (Link)

Fotografie Copyrights:

Titelbild: Robert Bosch GmbH / Daimler AG, Porträt Stefan Carsten: ZukunftsinstitutMobility Trend Map 2022: Zukunftsinstitut, Porträt Claus Habiger: Claus Habiger, Carsharing: Bundesverband CarSharing e. V.

Illustration Frau Wehrmann

Anne-Katrin Wehrmann
Journalistin und Texterin